Am 12. Juni (ab 18 Uhr, live in der ARD) tritt die deutsche Nationalmannschaft zu einem Benefizspiel in Bremen gegen die Ukraine an. 30 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen spricht Rekordnationalspieler Lothar Matthäus mit Redakteur Thomas Hackbarth über das erste Benefizspiel der Nationalmannschaft am 5. Oktober 1993 gegen eine Auswahl ausländischer Bundesligaspieler.
DFB.de: Herr Matthäus, Sie haben damals die deutsche Nationalmannschaft in Augsburg auf das Spielfeld geführt. 30 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen und dem Benefizspiel gegen eine internationale Bundesliga-Auswahl zugunsten der Familie Genç. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf?
Lothar Matthäus: Leider ist es so, dass Solingen nicht die einzige rechtsextreme Gewalttat war und auch nicht die letzte bleiben sollte. Das war damals am 29. Mai 1993 eine furchtbare Schreckensnachricht. Ein feiges Attentat, unschuldige schlafende Menschen wurden getötet. Es hat uns alle geschockt. Damals ist die Nachricht vom Brandanschlag in Solingen um die ganze Welt gegangen. Deutschland ist ein sicheres Land, das ist unsere Heimat, hier fühlen wir uns sicher. Und dann musst du erleben, wozu solche Menschen wie die Täter von Solingen im Stande sind.
DFB.de: Vor Solingen gab es Hoyerswerda, Rostock und Mölln. Haben Sie den wachsenden Hass auf Ausländer in den Monaten zuvor bewusst mitbekommen?
Matthäus: Natürlich habe ich das mitbekommen, es wurde in den Medien berichtet. Andererseits, wenn man in München lebt, haben Vorfälle in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern für dich nicht so eine Bedeutung. Sie sind gefühlt weit entfernt. Es ist doch so, wenn etwas direkt vor deiner Haustür passiert, erreicht dich das noch etwas mehr. Und ich war nach vier Jahren bei Inter Mailand gerade wieder nach München zurückgezogen. Ich musste mich wieder einrichten, etablieren, auch sportlich beim FC Bayern München. Als dann aber der Brandanschlag von Solingen geschah, waren wir alle am Morgen danach zutiefst geschockt. Und es war in Deutschland passiert. Dafür musst du dich schämen.
DFB.de: Die Täter legten das Feuer mitten in der Nacht. Zwei Frauen und drei Kinder starben in den Flammen. Hat der damalige DFB-Präsident Egidius Braun Sie selbst angerufen?
Matthäus: Ja, ich hatte mit Egidius immer einen sehr guten Kontakt. Es war klar, dass der DFB und vor allem auch wir Nationalspieler etwas tun mussten. Das Benefizspiel für die Familie Genç war dann ein Statement des ganzen Fußballs. Es war ein Zeichen für alle Menschen im Land, die zu uns gehören. 30 Jahre danach denke ich, das ist uns ganz gut gelungen.
DFB.de: Der Fußball war Nebensache, die internationale Bundesliga-Auswahl gewann 2:0. Wissen Sie noch, wer die Tore schoss?
Matthäus: Nein. Denn es ging um die Sache. Und es ist auch sehr viel Zeit vergangen, seitdem gab es für mich schon sehr viele Fußballspiele.
DFB.de: Während der Jahre bei Inter Mailand und später als Trainer etwa in Ungarn, Bulgarien und Israel haben Sie und Ihre Familie im Ausland gelebt. Mussten Sie selbst jemals Ausländerhass erleben?
Matthäus: Das hatten aufgrund der Geschichte manche in Israel erwartet. Aber auch in Israel bin ich Menschen begegnet, die mich mit offenen Armen, mit Freude und Liebe empfangen haben. Genauso in Bulgarien und Brasilien, ich war ja auf der ganzen Welt unterwegs - und ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn ich mit einem Lächeln empfangen wurde. So sollte es allen Menschen gehen. Ein paar Mal brachte mich der Fußball in afrikanische oder asiatische Länder, in denen es Unruhen gab. Aber ich durfte mich immer sicher fühlen. Und so sollte sich jeder Mensch egal, woher er oder sie kommt, hier in Deutschland fühlen.
DFB.de: Durch das Benefizspiel konnten damals drei Millionen D-Mark eingespielt werden. Das war eine wichtige Hilfe für die Opfer. Und es war eine klare politische Botschaft. Wie politisch darf der Fußball sein?
Matthäus: Der Fußball darf nicht nur, er ist in der Verpflichtung, solche Zeichen zu setzen, weil er aufgrund der Aufmerksamkeit etwas bewegen kann. Aber die Spieler sollten sich immer nur mit Überzeugung engagieren. Das bedeutet auch, dass man auch mal Nein sagen darf. Katar war in dem Sinne eine Ausnahmesituation, der Druck, hier zu handeln, muss schon sehr groß gewesen sein. Doch zurück zum Brandanschlag von Solingen. Fußball per se ist international. In jeder Bundesligamannschaft spielen Menschen mit unterschiedlichen Pässen, viele von uns spielen mal im europäischen Ausland. Deshalb ist es wichtig, dass der Fußball klare Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung setzt. Bis heute haben diese Zeichen eine hohe Wichtigkeit, etwa wenn es zu rassistischen Schmährufen kommt. Dann muss sich der ganze Sport deutlich dagegenstellen.
DFB.de: Ist das auch heute 30 Jahre nach Solingen eine Aufgabe der Nationalspieler und der Nationalmannschaft?
Matthäus: Ein klares Ja. Wir sind Botschafter, wir sind Personen des öffentlichen Interesses. Nationalspieler sind Vorbilder und aus dieser Verantwortung kommt kein Nationalspieler raus. Auch heute nicht.
In der Nacht zum 29. Mai 1993 setzten vier Täter im Alter zwischen 16 und 23 Jahren im nordrhein-westfälischen Solingen ein Zweifamilienhaus in Brand, in dem die türkische Familie Genç lebte. Fünf Menschen starben bei der rechtsextrem motivierten Gewalttat. Insgesamt 19 Menschen hatten sich in der Tatnacht im zweigeschossigen Haus in der Unteren Wernerstraße 81 aufgehalten. Die Feuerwehr spricht von einem Flashover, wenn sich aufgrund immens hoher Temperaturen auf einen Schlag ein ganzes Zimmer entzündet. Die 27 Jahre alte Gürsen Ince sprang aus dem Dachgeschoss in den Tod, in den Flammen starben Hatice Genç, 18, die neunjährige Hülya Genç, die vierjährige Saima Genç und die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, eine Cousine, die gerade aus der Türkei auf Urlaub nach Solingen gereist war. Die im vergangenen Oktober verstorbene Mevlüde Genç hatte zwei Töchter und zwei ihrer Enkelkinder verloren. Dennoch forderte sie nach dem Brandanschlag von Solingen Versöhnung und differenzierte sehr deutlich zwischen den Tätern und der deutschen Bevölkerung.
[th]