DFB Stiftungen Logo
29.3.2023

Alles für Chiara – „Horst-Eckel-Preis“ für den SV Melverode-Heidberg

Chiara und ihre Eltern Leonarda und Tino Brunetti auf einem Sportplatz
Chiara wurde mit Tibiale Hemimelie geboren.

Am 27. März fand die Verleihung der Sepp-Herberger-Awards in der Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom in Berlin statt. 14 Preisträger erhielten in den Kategorien Handicap-Fußball, Resozialisierung, Schule und Verein, Fußball Digital, Fußball-Stiftung sowie Sozialwerk Geldpreise in Gesamthöhe von 100.000 Euro. Der „Horst-Eckel-Preis“ ging an den SV Melverode-Heidberg aus dem Niedersächsischen Fußballverband. Thomas Hackbarth über die Geschichte der kleinen Chiara Brunetti.

Leonarda Brunetti wurde in Süditalien geboren, dort wo das Geld schon mal knapper wird, den Menschen aber ohnehin die Familie der größte Reichtum ist. 2010 verliebte sie sich in Tino, beide prüften sich gewissenhaft, vor vier Jahren heirateten sie in Braunschweig. Am 13. März 2021 erblickte Chiara das Licht der Welt. Ein Frühchen, fünf Wochen vor der Zeit. Etwas stimmte nicht, nur eine Kleinigkeit, oder? Es wurden Bilder gemacht. Drei Tage später stand der Orthopäde vor Leonarda und sagte: „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Leonarda Brunetti ist eine zierliche robuste Frau. Kontrolle kann sie. Aber spricht sie über den Moment, der hoffentlich kommt, im Spätsommer oder im Herbst, wenn ihre Tochter erstmals ungestützt auf eigenen Füßen laufen wird, dann überschlägt sich ihre Stimme.

Es ist ein Märchen, noch nicht ganz vielleicht, denn der glückliche Ausgang ist ungewiss. Jetzt aber, im Frühling, ist so vieles schon so gut. Das Märchen begann beim SV Melverode-Heidberg, einem Braunschweiger Kreisligaklub. Tino Brunetti erzählte seinen Mannschaftskameraden von der Diagnose, der vergeblichen Suche nach einer Klinik, dem Rat der Ärzte beide Beine zu amputieren. Dann von einem Hoffnungsschimmer. Mit Preisschild. 350.000 Euro würde es brauchen, und dann, vielleicht, mit eisernem Willen, Schmerztoleranz, wenn die Fügung dazukommt, würde Chiara auf eigenen Beinen laufen können.

Chiara und ihre Eltern Leonarda und Tino Brunetti sitzen gemeinsam auf einer Couch
Der Spendenmarathon begann beim SV Melverode-Heidberg.

„Es entstand ein regelrechtes Lauffeuer“

„Dann ging das los“, erinnert sich Leonarda. „Jeder aus der Mannschaft spendete. Viele haben den Spendenaufruf an Freunde und Bekannte weitergegeben. Jeder hatte es im Status. Alle posteten, was das Zeug hielt.“ Tino Brunetti sagt: „Meine Jungs sind einfach richtig gut vernetzt.“ Melverodes Abteilungsleiter Fußball Philip Michel erzählt: „Es entstand ein regelrechtes Lauffeuer. Überall auf Braunschweigs Sportplätzen sah man Plakate, Flyer und Spendendosen.“

Die Diagnose lautete auf Tibiale Hemimelie. Das Schienbein war nicht vollständig bis zum Sprunggelenk durchgewachsen, dadurch standen beide Füße in einer extremen Fehlstellung. Beide Unterschenkel waren betroffen, rechts noch ausgeprägter als links. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Säugling so geboren wird, liegt bei 1:100.000.000. Für die Brunettis begann ein Zug durch die Kliniken. „Immer kamen wir weinend zurück“, erinnert sich Leonarda. Die Beine müssten amputiert werden, hieß es, seltener auch, das brauche zehn Jahre und noch mehr Operationen. Behandlungsstatistiken wurden erklärt und irgendwie klang es für die beiden jungen Eltern wie eine Kosten-Nutzen-Rechnung.

Sich für eine Amputation zu entscheiden, das konnten und wollten die Brunettis nicht. Leonarda sagt: „Meine Tochter hat nur ihre zwei Beine. Es ist nicht so, als ob man einen Fingernagel abschneidet.“ Eineinhalb Jahre sind vergangen seit ihrer Irrfahrt mit Chiara durch die Kliniken, darunter auch eine 15-stündige Bahnfahrt nach Italien, doch noch immer hört man Leonarda Brunettis Entrüstung. „Alle Gefühle waren da. Trauer, Wut, Enttäuschung. Aber immer waren wir auch glücklich, unsere Tochter zu haben“, berichtet Leonarda.

Chiara und ihre Mutter Leonarda Brunetti lachen gemeinsam auf einem Sportplatz
Der Basketballspieler Dennis Schröder von den Atlanta Hawks rief zum Spenden für Chiara auf.

Orthopäde in den USA

Über die Mutter eines ähnlich erkrankten Kinders erfuhren die Brunettis von Dr. Dror Paley. Ein renommierter Orthopäde, der seit Jahren Kinder mit Rückgradverkrümmungen, Klumpfüßen oder Tibialer Hemimelie in seiner Klinik in West Palm Beach unweit von Miami operiert. Bei und nach der ersten Operation würden die Füße, das Schienbein und das Wadenbein mit Fixateuren in Position gebracht. In der zweiten Operation würden das Schienbein und das Wadenbein zu einem weiteren Knochen verbunden. Nach einigen Wochen Gips würde Chiara anfangs noch speziell für sie angefertigte Orthesen tragen müssen. Dann könnte sie auch die abnehmen, sagte der Spezialist aus Florida. Paley veranschlagte für die Behandlung 350.000 Euro.

Tino Brunetti ist als Industriemechaniker im VW-Werk in Braunschweig beschäftigt, Leonarda musste und wollte sich um ihre Tochter kümmern. Beide bereiteten eine Spendenkampagne vor. Sie richteten ein Stiftungs-Spendenkonto ein, die in der IT-Branche tätige Patentante half bei der Internetseite, Leonarda selbst gestaltete die Instagram-Plattform. Wenn Chiara ein Schläfchen machte, stürzten sie zum Laptop, zum Handy. Tino erzählt: „Man freut sich über jeden Euro. Und sofort denkt man, was können wir noch machen. Wenn mal einen Tag nichts überwiesen wurde, wuchs die Sorge. Ich bin ab August 2021 nie zur Ruhe gekommen.“

Der Basketballspieler Dennis Schröder ist in Braunschweig geboren worden. Fünf Jahre spielte er für das NBA-Team Atlanta Hawks, derzeit steht er zum zweiten Mal bei den Los Angeles Lakers unter Vertrag. Seine Stärke ist die Schnelligkeit, eins-gegen-eins-Situationen gehen meistens an ihn. Er ist Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Irgendwann stand er in der Wohnung der Brunettis und hatte Chiara auf dem Arm. Er drehte ein Video und teilte es über seine Kanäle. Leonarda kannte Dennis‘ Frau aus der Schulzeit. Der Basketballer forderte zum Spenden auf.

Leonarda Brunetti fotografiert ihre Tochter Chiara, die durch das obere Loch einer Torwand schaut
Im Spätsommer 2022 flog die Familie Brunetti für die Operationen nach Florida.

Unglaubliche Spendensumme gesammelt

Kurz vor Weihnachten 2021 hatten die Brunettis die 350.000 Euro gesammelt. Eine Erleichterung – „da haben wir zum ersten Mal ausgeatmet“, sagt Leonarda. Im Spätsommer 2022 wurde es Zeit, nach Florida zu fliegen. Chiara sah andere Kinder laufen und versuchte aufzustehen. Das klappte nicht. Auch medizinische Argumente sprechen für eine möglichst frühzeitige Operation. Die Brunettis wohnten in einem Gästehaus der Klinik mit anderen Eltern und deren erkrankten Kindern. Tagsüber Therapien, Behandlungen, millimeterweise wurden die Fixateure gerichtet. Abends durften sie Chiara mit ins Gästehaus nehmen. Die Operationen dauerten sieben Stunden. Als Chiara nach fünf Monaten alle Behandlungen hinter sich gebracht hatte und mithilfe der Fixateure auf eigenen Beinen die Klinik verließ, postete Dennis Schröder das Foto: „Was harte Arbeit bewirken kann.“

Knapp 18 Monate zuvor hatten die ersten Mitspieler beim SV Melverode-Heidberg gespendet. „Mich beeindruckt die Strahlkraft selbst eines kleinen Fußballklubs“, sagt Werner Krutsch. Der Verbandsarzt des Bayerischen Fußball-Verbandes wünscht sich, dass viel mehr Klubs ihre Kraft auch bei anderen Gesundheitsthemen wie Blutspende, Stammzellen-Spende oder Organspende einsetzen würden. „Wir könnten so jedes Jahr tausende Leben retten.“ Philip Michael ist stolz auf seinen Verein. „Bolzen und Alkohol, das fällt den Leuten ein, wenn sie an Amateurfußball denken. Dabei geht es um Gemeinschaft und um den sozialen Zusammenhalt. Der SV Melverode-Heidberg hat bewiesen: Auch ein kleiner Verein kann Großes leisten“.

Wenn Leonarda Brunetti darüber spricht, wie ihre Tochter im Herbst irgendwann die Orthesen abstreifen und auf ihren eigenen Füßen laufen wird, überschlägt sich ihre Stimme. „Das“, sagt sie, „wäre der wirkliche Jackpot“. Für Chiaras Gesundheit werden nicht nur beim SV Melverode-Heidberg die Daumen gedrückt.

News

arrow green