Uli Borowka war ganz oben: Nationalspieler, deutscher Meister, DFB-Pokalsieger, Gewinner des Europapokals mit Werder Bremen. Aber der heute 63-Jährige war nach einer Alkoholsucht auch ganz unten, hat zeitweise unter der Brücke gelebt und einen Selbstmordversuch überstanden. Für die DFB-Stiftung Sepp Herberger ist Borowka seit zwei Jahren regelmäßig in Haftanstalten unterwegs und teilt seine Erfahrungen dort mit den Insassen. Zuletzt war Borowka in der JVA Adelsheim, der JVA Zweibrücken und der JVA Neuburg-Herrenwörth zu Gast. Warum sind ihm diese Besuche wichtig? Und was kann er den Menschen in den Einrichtungen mitgeben?
Uli Borowka, warum sind Sie regelmäßig für die DFB-Stiftung Sepp Herberger in Haftanstalten, um sich dort mit Inhaftierten auszutauschen?
Uli Borowka: Meine eigene Lebensgeschichte ist hier sicher ein wichtiger Grund. Ich habe auch einiges auf dem Kerbholz und stand selbst kurz davor, ins Gefängnis zu kommen. Inzwischen ist es zu einer Herzensangelegenheit für mich geworden, die Sepp-Herberger-Stiftung an dieser Stelle zu unterstützen. Aber vor allem ist es mir ein Anliegen, den Inhaftierten Mut und Zuversicht für ihren weiteren Lebensweg zu geben. Alle haben Fehler gemacht, ich selbst auch. Jede und jeder hat eine zweite Chance verdient. Ich habe sie genutzt. Ich möchte die Inhaftierten ermutigen, ebenfalls diese Möglichkeit zu nutzen. Sie ist vielleicht einmalig. Man darf sein Leben nicht leichtfertig wegwerfen. Man hat nur dieses eine.
Warum waren Sie selbst kurz davor, ins Gefängnis zu kommen?
Borowka: In meiner Akte war einiges vermerkt – Einbruch, Diebstahl, Hausfriedensbruch, häusliche Gewalt und Körperverletzung. Dann stand ich eines Tages vor dem Richter und es ging nur noch darum, ob er den Daumen senkt oder hebt. Wenn es schlecht gelaufen wäre, wäre ich weg gewesen. Für mindestens anderthalb Jahre. Aber ich hatte Glück und ich habe eine neue Chance bekommen. In dem Moment habe ich gemerkt, dass es nicht fünf vor zwölf ist, sondern fünf nach zwölf. Das war der Moment, als mir klar wurde, dass ich zurück ins Leben und noch einiges erreichen möchte.
Sehen Sie bei den Menschen in den Gefängnissen Parallelen zu Ihrer eigenen Lebensgeschichte?
Borowka: Ja, natürlich. Die meisten kennen mich dort nicht. Dafür sind sie zu jung und ich bin zu alt. Aber wenn wir ins Gespräch kommen, merken sie, dass ich authentisch bin und dass ich ihnen vielleicht etwas mitgeben kann. Einige sagen mir nachher, dass sie sich in der Gefängnisbibliothek mein Buch ausleihen wollen. Wenn das wirklich so ist, haben wir schon viel erreicht.
Können Sie ein Puzzleteil sein, um den Menschen den Weg zurück ins Leben zu zeigen?
Borowka: Das hoffe ich. Ich kann zumindest dem einen oder der anderen einen Anstoß geben. Was sie dann daraus machen, liegt nicht mehr in meiner Hand. Meine Vita zeigt das ja: Ich war als Fußballer ganz oben. Ich war Nationalspieler und deutscher Meister. Ich habe Millionen verdient. Ich hatte viele Freunde. Aber dann war ich plötzlich ziemlich schnell ganz unten. Ich habe unter der Brücke gelebt und war pleite. Ich hatte Schulden im sechsstelligen Bereich. Niemand wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Aber ich habe nicht aufgegeben und habe mich zurückgekämpft.
Sie sagen, dass es für Sie sehr schnell nach unten ging. Wie lang war der Weg zurück?
Borowka: Wahnsinnig lang, anstrengend und mühselig. Und er ist niemals zu Ende. Das versuche ich auch immer zu vermitteln. Ich zeige auf, wie ich es geschafft habe. Und dass es sich lohnt.
Was braucht man, um es zu schaffen?
Borowka: Vor allem den Willen dazu. Und gute Freunde, die einen auch in schweren Zeiten unterstützen. Man darf sich nicht zu schade sein, um Hilfe zu bitten. Allein ist es kaum möglich. Es werden einem viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, weil man auf eine bestimmte Art und Weise gebrandmarkt ist. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.
Sie waren einer der besten Fußballer in Deutschland – und gleichzeitig schwerer Alkoholiker. Wie passt das zusammen?
Borowka: Ich war nicht nur fast 20 Jahre Alkoholiker, sondern gleichzeitig auch noch medikamentenabhängig und spielsüchtig. Das volle Programm. Ich bin sehr froh, dass ich keine organischen Schäden mitgenommen habe. Trotz allem habe ich immer meine Leistung gebracht. Da das der Fall war, war es auch kein Problem, wenn ich einmal in der Woche besoffen vom Stuhl gefallen bin. Zumindest in einer Hinsicht war ich vernünftig: Wenn wir samstags ein Spiel hatten, habe ich mich freitags mit dem Alkohol zurückgehalten. Dafür habe ich dann nach dem Schlusspfiff Vollgas gegeben und bis montags durchgesoffen. Das war das Belohnungsprinzip. Das ist das typische Verhalten eines Suchtkranken.
Wussten Ihre Mitspieler von Ihrer Sucht?
Borowka: Natürlich, alle wussten das. Aber ich habe mir nichts sagen lassen. Von niemanden. Da sind wir beim Thema Co-Abhängigkeit. Das ist heute fast genauso schlimm wie die Sucht selbst. Ein Süchtiger zieht drei bis vier andere Personen im Freundes- und Familienkreis mit in den Abgrund. Der Weg eines Suchtkranken geht immer nach unten, niemals nach oben. Aber das habe ich damals nicht erkannt. Dafür war ich auf einem zu hohen Ross. Ich war damals ein selbstherrliches und selbstverliebtes Arschloch.
Eine krasse Aussage.
Borowka: Aber genau so war es. Und da gibt es auch nichts schönzureden. Ich habe nie erkannt, dass ich ein Problem hatte. Für mich hatten alle anderen auf der Welt ein Problem. Aber ich doch nicht…
Wann haben Sie erkannt, dass Sie sogar ein ziemlich großes Problem hatten.
Borowka: Als ich in der Klinik stand und nach zwei oder drei Wochen in den Spiegel geschaut habe. Eines Morgens habe ich zu mir selbst gesagt: „Uli, du bist Alkoholiker und sei froh, dass sie dir hier helfen.“ Das war ein einschneidender Moment.
Was hat sich in diesem Moment verändert?
Borowka: Alles. Bis dahin dachte ich, dass ich irgendwann rausgehen und kontrolliert trinken werde. Aber so funktioniert das nicht. Ich habe seit 25 Jahren keinen Schluck Alkohol mehr getrunken und habe heute auch kein Verlangen mehr danach. Und trotzdem hört der Kampf gegen die Sucht nie auf. Ich musste mich für schwarz oder weiß entscheiden und habe mich für weiß entschieden.
Was hat Ihnen die Sucht genommen?
Borowka: Alles. Meine Familie, meine Kinder, meine Freunde, mein Geld, mein Leben. Der Alkohol hat mir ganz, ganz viel genommen. Ich habe zuhause in meiner leeren Bude auf einer vollgekotzten Matratze gelegen und habe versucht, mich umzubringen. Das war einerseits natürlich eine brutale Zeit und mein totaler Tiefpunkt. Andererseits habe ich dadurch auch unglaublich viel gelernt. Und dieses Wissen gebe ich jetzt in meinen Vorträgen weiter. Wenn ich damit einigen Menschen den Weg aus der Sucht zeigen kann, dann habe ich sehr viel erreicht. Meine Erkenntnis ist: Mit Verboten erreichen wir nichts. Wir müssen ins Gespräch kommen - vor allem mit den Jugendlichen. Das ist ein ganz entscheidender Hebel im Kampf gegen die Sucht. Genau deshalb unterstütze ich die Initiative „Anstoß für ein neues Leben“ der Sepp-Herberger-Stiftung.
Haben Sie heutzutage tatsächlich gar kein Verlangen mehr nach Alkohol?
Borowka: Nein, davon bin ich weg. Aber auch, weil mir sehr bewusst ist, dass ich extrem gefährdet bin, bis an mein Lebensende. Jeder Schluck Alkohol kann für mich gravierende Folgen haben. Diese Krankheit ist kein Schnupfen, der wieder weggeht. Am Ende der Sucht steht meistens der Tod. Ich habe zum Glück gerade noch rechtzeitig den Absprung geschafft. Aber es war verdammt knapp.
Wie ist es, wenn Sie auf Veranstaltungen sind, auf denen wie selbstverständlich Alkohol getrunken wird?
Borowka: Wenn ich dort nach einer Stunde merke, dass ich mich mit niemandem mehr unterhalten kann, weil alle betrunken sind, dann drehe ich mich um und gehe nach Hause. Auf Wiedersehen, das tue ich mir nicht mehr an. Das macht mir keinen Spaß, darauf habe ich keine Lust. Alkohol ist in Deutschland ein Kulturgut. Wir Erwachsenen müssen mit dem Alkohol verantwortungsvoll umgehen, weil wir die Vorbilder für den Jugend sind. Wenn ich sehe, dass sonntagsmorgens um 10 Uhr die Eltern bei Nachwuchsspielen mit der Bierflasche am Platz stehen, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Das kann doch nicht sein. Und das ist leider nicht die Ausnahme. Ich habe es mit eigenen Augen bei den Partien meiner Tochter gesehen. Darüber sollten wir reden.
Auch Profifußballer sind Vorbilder. Besteht dort heutzutage das Problem des Alkoholismus auch noch?
Borowka: Natürlich. Wir haben vielleicht etwas weniger Alkoholkranke, dafür aber mehr Profis, die spiel-, handy- oder internetsüchtig sind. Im Profisport haben wir dieselben Probleme wie in der normalen Gesellschaft. Der Sucht ist es egal, was für einen Job man ausübt. Im Profisport ist die Gefahr vielleicht sogar noch größer, weil der Druck dort riesig ist. Die Sucht kann ein Ventil bei dieser psychischen Belastung sein.
Kann der Fußball – speziell der Breitenfußball - andererseits auch eine Möglichkeit sein, nach einem Suchtentzug oder nach einem Haftaufenthalt die Rückkehr in die Gesellschaft zu schaffen?
Borowka: Es gibt nichts Besseres als Mannschaftssport im richtigen Umfeld. Auch hier nimmt die Sepp-Herberger-Stiftung mit der Initiative „Anstoß für ein neues Leben“ eine Vorreiterrolle ein. Inhaftierte, die kurz vor ihrer Entlassung stehen, werden über den Fußball resozialisiert oder manchmal auch überhaupt erst sozialisiert. Besser geht es nicht. Im Mannschaftssport geht es nicht nur um das Gewinnen oder Verlieren. Es geht auch darum, sich an Regeln zu halten, um Fairness und darum, sich in einer Gruppe zu integrieren. Das ist der Weg, den die Inhaftierten meiner Meinung nach unbedingt gehen sollten. Wir können beim Anstoß dabei sein, aber das Spiel müssen sie selbst machen und gewinnen…